Elisabeth Nießen

weitere Namen: Else Niessen
geboren: 14.06.1884 Bielitz in Schlesien, Österreich-Ungarn
gestorben: ?
Religionsbekenntnis: evangelisch

Ausbildung
1913 – 1917 Kunstgewerbeschule Wien, Fachklasse Architektur Heinrich Tessenow
Elisabeth Nießen
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Fig 42 Kasten für Zimmer oder Küche , Fig. 43 Kasten wie Fig. 42 jedoch Oberteil mit Glastürflügel, in: Einfacher Hausrat, Hg: k.k. österreichisches Museum für Kunst und Industrie, Wien 1916

Biografie

Bielitz, im damaligen Österreich-Schlesien gelegen, war eine deutschsprachige Stadt mit überwiegend protestantischen Bewohnerinnen (nach dem Ende der Monarchie und der Einigung mit Tschechien fiel Bielitz Polen zu) in der die Familie Nießen lebte. Vater Paul Nießen war Kaufmann, Tochter Elisabeth war künstlerisch interessiert und konnte private malerische Studien vornehmen. Da ihre ältere verheiratete Schwester in Wien wohnte, nutzte Elisabeth die Möglichkeit in ihre Nähe nach Wien zu ziehen. Ab 1912 war sie in Wien als „Kunstgewerbeschülerin“ gemeldet. Sie hatte sich zu einer Ausbildung an der Wiener Kunstgewerbeschule entschlossen, in die sie 1912, im Alter von 28 Jahren, eintrat. Elisabeth Niessen kam vorerst als hospitierende Schülerin in die Textilwerkstätte von Professorin Rosalia Rothansl und nahm in der Klasse für ornamentale Formenlehre von Franz Cizek teil. Im Studienjahr 1913/14 war sie ordentliche Schülerin der Allgemeinen Abteilung bei Professor Oskar Strnad. In diesem Jahr kam Architekt Heinrich Tessenow nach Wien an die Kunstgewerbeschule um die Architekturklasse (in der Nachfolge von Herman Herdtle) zu übernehmen und hielt erstmals, als Neueinführung an der Kunstgewerbeschule, Unterricht über Baukonstruktion. Elisabeth entschloss sich seine Architekturklasse zu besuchen und nahm auch am Unterricht über Baukonstruktion teil. 1915/16 war sie in diesem Kurs die einzige Frau unter den 13 Studierenden. Ein Jahr später waren unter 16 Kursteilnehmer*innen bei Tessenow 7 Frauen, Hilda Friedenberg aus Cronberg am Taunus, Deutschland, ebenfalls Architekturklasse Tessenow, Margarete Lihotzky aus Wien (Allgemeine Abteilung, Klasse Strnad), ebenso Klothilde Drennig von Pietra-Rossa aus Semlin in Slavonien (Allgemeine Abteilung, Klasse Strnad), Ernestine Kopriva aus Wien, Juliana Rysavy aus Weißkirchen in Mähren und Maria Trinkl aus Wien, alle drei aus der Architekturklasse Hoffmann.
Aus diesen ersten Hörerinnen der Baukonstruktion gingen jedoch nur zwei spätere Architektinnen hervor, Margarete Lihotzky und Elisabeth Niessen. Zu Hilda Friedenbergs und Klothilde Drennig von Pietra-Rossas weiteren Lebenswegen konnte bisher nichts Näheres gefunden werden. Juliana Rysavy und Maria Trinkl wurden als Textilkünstlerinnen der Wiener Werkstätten bekannt. Ernestine (Erna) Kopriva war nach ihrem Studienabschluss 1919 auch für die Wiener Werkstätten tätig. Sie wurde 1928 Assistentin in der Klasse Hoffmann. Nach 1945 –1960 leitete sie die Klasse und die Werkstätte für Stoffdruck und Tapeten. 

In die Ausbildungszeit fielen die Jahre des ersten Weltkrieges, die allgemein spürbar wurden. So erhielt die Kunstgewerbeschule im Jahr 1916 einen Auftrag des k.k. österreichischen Museum für Kunst und Industrie (heute Museum für angewandte Kunst) Entwürfe für „einfache Mustermöbel für die kriegsbetroffenen Gebiete“ zu erstellen. Es entstand die Mappe Einfacher Hausrat an der sich Professor Oskar Strnad mit Möbelentwürfen beteiligte und zahlreiche Studierende der Architekturklassen. Darunter finden sich Zeichnungen für zwei Kästen von Elisabeth Niessen, ein Schrankentwurf und ein Kasten mit Glastürfgel.

Elisabeth Niessen schloss als eine der allerersten Frauen in Wien 1917 eine Architektur­ausbildung in der Klasse bei Heinrich Tessenow ab. Ihre Ausbildung ist durch die Teilnahme am Unterricht in Baukonstruktion und die Katalogeinträge des Lehrenden zu „Art der Studien“ nachvollziehbar. Bei ihr ist im Katalog von 1916/17 zu lesen „Möbel- und Hausbau-entwürfe und zugehörige Werkzeichnungen“. In ihrem Abgangszeugnis von Juni 1917 schrieb Tessenow: 

Fräulein Elisabeth Nießen verfasste die Entwurfs- und genauen Ausführungspläne zu kleinbürgerlichen und reicheren Möbeln ganzen Zimmereinrichtungen und Wohnhäuser. Sie ist für architektonisches Arbeiten in einem besonderen Maße begabt und kann kleinere und mittelgroße Architekturaufgaben zuverlässig und reif bearbeiten.

Im August desselben Jahres änderte sie die Berufsbezeichnung ihrer Meldung in Wien auf Architektin. Ihre Suche nach Arbeitsmöglichkeiten war am Wiener Stadtbauamt erfolgreich. Im September 1917 trat sie in die Dienste der Plan- und Schriftenkammer Wien ein. 

Es war immerhin eine kleine Sensation als sie ihr Amt antrat. Bürgermeister Dr. Weiskirchner begrüßte die erste Architektin des Stadtbauamtes persönlich, …“  war im Neuen Wiener Journal am 31. Mai 1918 im Artikel Wiens erste Architektin zu lesen. Sie erhielt große Aufmerksamkeit als „einzig technisch arbeitende Frau im Stadtbauamt”. Als ihr Arbeitsgebiet wurde die Planung für die Kriegerheimstätten Aspern und die Kriegerwohnungen auf der Schmelz beschrieben. Wobei betont wurde, dass der Architektin die Planung der Wohnungen samt Einrichtung wichtig wäre.

Die tatsächliche Beteiligung Elisabeth Niessens an der Planung dieser Siedlungsbauten lässt sich heute nicht nachvollziehen. Im Archiv des Wiener Stadtbauamtes finden sich keine Unterlagen mehr aus dieser Zeit. Auch eine Mitarbeit von Niessen am späteren Wohnbauprogramm des Roten Wiens ist nicht auffindbar.  

Künstlerisch tätig war sie als Mitglied der Vereinigung Wiener Frauenkunst. Ihre Raumgestaltungen eines Musikzimmers und eines Raumes für Handarbeiten bei der Ausstellung Das Bild im Raum 1929 sind dokumentiert. 

Im Sommer 1930 schrieb sie an Heinrich Tessenow in Berlin, einen Brief indem sie um seine Unterstützung ersuchte und fragte, ob in Berlin Arbeitsmöglichkeiten für Architektinnen existierten und resümiert ihre Erfahrungen in Wien: Um all die Vorurteile zu bekämpfen gehören vielleicht fünfzig Jahre dazu, um klarzumachen, daß eine Frau beim Bauen mitzureden hat, und daß man sie arbeiten läßt.

Im Melderegister scheint im August 1931 ihre Abmeldung aus Wien zu ihrem Bruder Ernst Niessen nach Hannover auf. Danach verliert sich ihre Spur.

Werke (Auswahl)

1916 Mappe Einfacher Hausrat, mit zwei Entwürfen von Elisabeth Niessen, Schrankentwurf und Kasten mit Glastürfgel

ab 1917 angestellt am Wiener Stadtbauamt in der Plan- und Schriftenkammer

1929 Raumgestaltungen eines Musikzimmers und des Raumes für Handarbeiten bei der Ausstellung Das Bild im Raum der Wiener Frauenkunst, im Museum für Kunst und Industrie Wien

Quellen

Kunstsammlung und Archiv, Universität für angewandte Kunst Wien (Archiv UaK)

Corinna Isabel Bauer: Architekturstudentinnen der Weimarer Republik. Bauhaus- und Tessenov Schülerinnen. Dissertation Universität Kassel, 2003. S.299, 304, 380

Das Bild im Raum, Führer durch die Ausstellung der „Wiener Frauenkunst“, Wien, Feber-März 1929

Einfacher Hausrat, im Auftrag des k.k. Ministeriums für öffentliche Arbeiten, herausgegeben vom k.k. österreichischen Museum für Kunst und Industrie, Wien 1916

Nationalen und Abgangszeugnis Elisabeth Nießen, Archiv UaK

MA 8, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldeunterlagen Elisabeth Niessen

Wiens erste Architektin. Im Stadtbauamt, in: Neues Wiener Journal, Wien, 31.5.1918, S. 3-4

Abbildungen: Archiv UaK

Text: Christine Zwingl

Februar 2024